Teresa Margolles, Entierro, 1999 © Teresa Margolles, Foto: Axel Schneider
Teresa Margolles, Entierro, 1999 © Teresa Margolles, Foto: Axel Schneider

Teresa Margolles

Muerte sin fin

Muerte sin fin „Andere Erfahrungen, andere Tode, erwarten uns.“ Octavio Paz

Teresa Margolles beschäftigt sich mit dem Tod, besser gesagt mit Toten. Sie tut dies in Mexico City. Margolles partizipiert an der Arbeit in einem der Leichenschauhäuser der Stadt und arbeitet zugleich als Künstlerin. Die Toten, denen sie begegnet und von denen ihre künstlerische Arbeit handelt, sind Opfer von Gewaltverbrechen, sind Drogentote, Verkehrstote, unidentifizierte Leichen usw. Und sie sind meist jung, mitunter Kinder.

Wenn Teresa Margolles sagt, sie interessiere das „Leben der Leichen", dann ist damit das Schicksal der toten Körper gemeint, das, was diese nach ihrem Tod erfahren und welche Verbindungen zwischen dem Leben vor und dem „Leben" nach dem Tode bestehen. Todesursachen, Sterbealter und die Formen von Beerdigung und Angedenken sind abhängig von sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen. Die Toten, auf die Teresa Margolles trifft, werden in vielen Fällen in anonymen Gräbern beigesetzt oder in Krematorien verbrannt, wenn die Angehörigen und Freunde nicht in der Lage sind, die Kosten für eine Bestattung aufzubringen. In einer liebevollen Hinwendung zu dem, was der Tod übrig lässt, liegt die verstörende Gewalt der Werke. Sie stehen auf der Grenze des Darstellbaren und auf der Grenze der Kunst, befinden sich also genau an dem Ort, an dem der Tod - jenseits einer Symbolisierung - als Auflösung aller Form gerade noch sichtbar wird. Teresa Margolles überführt vergangenes Leben durch künstlerische Intervention in die Wahrnehmbarkeit und entreißt damit die Toten dem anonymen Verschwinden. Ihr Werk erfährt eine existenzielle Zuspitzung, indem es die Distanz, die wir gewöhnlich den Toten gegenüber einnehmen, auf außergewöhnliche Weise durchbricht. Der Künstlerin gelingt es, die ästhetische Grenze mit künstlerischen Mitteln, die in der Stille wirken, zu überschreiten. Oftmals ist es allein die Einbildungskraft des Betrachters, seine Imagination, die das Unvorstellbare in eine momentane Gegenwart bringt. Die Arbeiten von Teresa Margolles sind traurig und bestechen gleichzeitig durch ihre Schönheit. Sie entziehen sich den Versuchen einer rationalen Erklärung in den Momenten, da sie einen geradezu physischen Kontakt mit den namenlosen Toten aufzwingen. Die Ausstellung zeigte ein großes, berührendes und überwältigendes Werk, wenn man die Augen vor den Toten nicht verschließt. Teresa Margolles tut es nicht.

I En el aire

In der zentralen Halle des MUSEUMMMK wurden über Maschinen Seifenblasen in die Luft geworfen. Die leichte und schöne Installation En el aire (2003) erhielt ihre schockhafte Wendung, wenn man erfuhr, dass das Wasser dieser Seifenblasen aus dem Leichenschauhaus stammt und zur Reinigung der toten Körper vor der Obduktion diente. Es ist dann für den Betrachter gleichgültig, dass das Wasser desinfiziert wurde. Der Unterschied zwischen der Seifenblase vor und nach der Information zur Herkunft des Wassers ist der Unterschied zwischen dem lebenden und dem toten Köper. Das, was einmal schön und begehrenswert war, verwandelt sich durch den Tod zum abstoßenden Gegenstand. Das traditionelle Vanitassymbol der Seifenblase, die bildliche Umsetzung des „homo bulla", erfuhr in der Installation von Margolles eine scharfe Wendung. Das Leben der gewaschenen Toten war bereits „zerplatzt" und zwar unter gewalttätigen Umständen. Aus dem Wasser bilden sich mit Hilfe der Maschine neue Formen, untereinander sehr ähnliche, schillernde Kugeln, die für einen kurzen Augenblick eine vollkommene Gestalt erhielten und dann auf dem Boden oder auf einem Handrücken eines Besuchers erneut zerplatzten. Wie eine erschreckende Wiederkehr der Toten, rufen die Blasen das bereits zerstörte Leben in Erinnerung und geben im Moment des Zerplatzens auf der Haut die Gewissheit unserer eigenen Lebendigkeit. Wenn das traditionelle Vanitasmotiv an unsere Sterblichkeit erinnert, erinnert die Arbeit von Teresa Margolles daran, dass wir leben.

II Papeles

In mehreren Reihen übereinander waren große Aquarellblätter angeordnet, die Margolles langsam durch Wasser gezogen hat, mit dem zuvor obduzierte Leichen gereinigt wurden. Die organischen Stoffe wie Blut und Fett, die durch die Obduktion an die Oberfläche der Körper gelangten, wurden abgewaschen und blieben dann an den saugfähigen Blättern hängen. Da jedes Blatt mit dem Wasser eines Toten getränkt wurde, entstanden anonyme „Porträts" der Toten. Wie in einer traditionellen Bildnisreihe, aber auch wie in einer Urnenwand sind die Papeles (2003) übereinander angeordnet. Das Papier trägt die Spuren der verletzten Körper und wurde - ohne Schutz eines Rahmens oder Glases - an die Wand geheftet.

III Catafalco

Catafalco (1997), zwei Gipsabdrücke obduzierter Leichen geben in ihren Hohlformen einen Verlust an. Aufrecht stehend erscheint in der negativen Form der Abdruck eines Körpers, eines Gesichts. Es ist - wie bei den Seifenblasen - nur eine äußere Hülle, aber individualisiert. Die Spuren des zerstörten Lebens sind in diesen Hohlformen enthalten. Haare, Hautpartikel usw. sind während des Abgießens im Gips hängen geblieben und beglaubigen wie Fingerabdrücke die Echtheit der Form. Beiden Arbeiten, Catafalco und Papeles, ist gemeinsam, dass sie mit den Mitteln der Malerei und der Plastik an die Tradition der „wahren Bilder" anschließen. Wie im Schweißtuch der Heiligen Veronica (vera icon) oder dem Turiner Grabtuch werden uns individuelle und abstrahierte „Abdrücke" der Toten gegeben, die als Beweis ihrer Existenz und ihres Leidens gelten können.

IV Entierro

Im Gegensatz zu den nur in peripheren Materialien anwesenden Körpern bildet Entierro (1999) ein wirkliches Grab. Der Leichnam eines totgeborenen Kindes wurde in einen Betonblock eingegossen. Totgeburten werden nicht als Leiche sondern als medizinische „Reste" behandelt. Zudem war die Mutter des Kindes nicht in der Lage, die Kosten für eine reguläre Bestattung aufzubringen. Teresa Margolles gab dem Kind ein massives, aber bewegliches Grab. Der Schmerz und die Trauer über den Tod des Fötus, seine Recht- und Ortlosigkeit finden in dem kleinen, rohen Block ihren Ausdruck. All das, was nur in einer unschließbaren Leere enden sollte, erhält einen massiven, einen gleichsam gepanzerten Platz. Zugleich wird darin die Grenzüberschreitung der Arbeiten von Teresa Margolles überdeutlich. Der Tod und seine Begleitumstände werden nicht repräsentiert, sondern präsentiert. Die Toten werden nicht abgebildet, sondern sind in ihrer physischen Realität präsent. Sie sind nicht allein Beispiele extremer Lebensumstände, sie sind individuell und einzigartig. Allen diesen Toten lässt Margolles das gleiche Recht zukommen, das ihnen in ihrem Sterben verweigert wurde - ihr Recht auf Aufmerksamkeit und Anerkennung. Sie werden, wenn auch anonym, nicht dem völligen Verschwinden überlassen, sondern bleiben als anstößige Reste erhalten.

V El agua

Die kurze Videosequenz aus El agua en la ciudad (2004) zeigt, was bislang nur als Information gegeben war: die Herkunft des Wassers, das in vielen Arbeiten von Teresa Margolles eine zentrale Rolle spielt. Die kurze Sequenz zeigt die Waschung eines Toten mit heißem Wasser vor der Obduktion in der Gerichtsmedizin. Der aufsteigende Dampf erfüllt die Räume des gerichtsmedizinischen Instituts und das abfließende Wasser gelangt über die Kanalisation ins Freie. Über die Luft und das Wasser tauschen sich die Sphäre der Toten und die Sphäre der Lebenden aus, gehen ineinander über. Der Beton der Bänke (Banco, 2004), auf denen der Besucher vor der Videoprojektion Platz nehmen kann, ist mit diesem Wasser angerührt. Sind die Toten und der Ort ihrer forensischen Behandlung nur als „Bild" anwesend, wird diese Distanz durch die Bestandteile der Bänke aufgehoben.

VI Trepanaciones

Am Ende der Galerie über der Installation Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch von Joseph Beuys war über einen Kopfhörer die Audio-Arbeit Trepanaciones (2003) zugänglich. Ähnlich wie in En el aire erlebt der distanzierte Klang einer Säge einen erschreckenden Umschlag in der Aufklärung über die Klangquelle. Über die kleinen Lautsprecher am Ohr, also gewissermaßen im Kopf, wird eine Schädelöffnung hörbar.

VII Aire, Llorado

Die beiden Rauminstallationen Aire (2003) und Llorado (2004) bildeten den Abschluss der Ausstellung. Beide Arbeiten haben als Ausgangsmaterial Wasser. In Aire wurde die Luft des Raumes über zwei Geräte mit dem Wasser befeuchtet, das bei der Waschung von Toten vor der Obduktion aufgefangen wurde. Die darin gelösten „Lebensspuren" verbreiten sich unsichtbar in der Luft und lassen erneut die Toten in minimalen Spuren anwesend sein. Die Begegnung wurde hier aufs Äußerste reduziert und intensiviert. Lediglich der schwache Geruch zeugte noch von ihrer Anwesenheit. Indem die Luft eingeatmet wurde, war der körperliche Kontakt unmittelbar und direkt. Die Verkörperung, die in En el aire noch in Gestalt von Seifenblasen sichtbar und damit vom Betrachter getrennt war, fand hier in der Person des Besuchers selbst statt. Dies führte zu einer Identifikation mit den Toten, zu einer unmittelbaren Ineinssetzung: Die Toten werden im Besucher verlebendigt, der Besucher in den Toten sterblich. Für die Ausstellung in Frankfurt hat Teresa Margolles eine neue Arbeit konzipiert, die als eine Rückschau oder auch Summe betrachtet werden kann: Llorado. Von der Decke des Raumes tropft aus vielen kleinen Ventilen normales Leitungswasser auf den Boden und die Besucher herab. Der Gedanke eines Kreislaufs, die Abfolge von Verdunstung und Niederschlag, ist wie ein Kommentar zur gesamten Ausstellung und zum Kern der Arbeit von Teresa Margolles zu verstehen. Die Leichen werden - und nicht nur in Mexico City - durch ein ausgeklügeltes System bürokratischer „Entsorgung" möglichst reibungslos zum Verschwinden gebracht, der Skandal, den jeder Tod bedeutet, so gut es eben geht bereinigt. Aber der Tod bleibt in der Luft und findet überall seinen Niederschlag. Die Spuren mögen noch so sorgfältig verwischt werden, durch alle Ritzen dringt er in unser Leben wieder ein. So gesehen ist jedes Wasser, mit dem wir uns waschen, das wir trinken, von der gleichen Qualität, wie das aus der Gerichtsmedizin in Mexico City.

Ausstellung

24. April — 15. August 2004

MUSEUMMMK

Domstraße 10
60311 Frankfurt am Main


mmk@stadt-frankfurt.de
+49 69 212 30447